Interview Helen Agnes Stoffel
„Es ist wichtig, ein Gefühl für diese Zeit damals zu bekommen. Nur so kann man verstehen, wie schnell die Gesellschaft kippte.
Und wie unverzichtbar es ist, heute rechtzeitig den Mut zu haben, aufzustehen und sich klar gegen Ausgrenzung, Feindlichkeit und Rassismus zu stellen, selbst im kleinen privaten Rahmen.
Auch dann, wenn einem das unangenehm erscheint, wenn man die vermeintlich gute Stimmung nicht zerstören will. Ansonsten entstehen mit der Zeit schweigende Mehrheiten, und mehr und mehr finden, dass Antisemitismus oder Islam-Feindlichkeit oder Homophobie in irgendeiner Form als Haltung oder Meinungsäußerung zu akzeptieren sei.“
Danke Goethe-Institut für das Interview
„Wo einmal Flieder blühte” – in einem Buch hat Helen Agnes Stoffel ihre Gespräche mit 13 Überlebenden des Holocaust in Berlin und Tel Aviv nun versammelt. Anlässlich des Internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erklärt die 31-Jährige im Interview, wie sie diese Begegnungen mit den Überlebenden verändert haben. Und welche Verantwortung für eine moderne Erinnerungskultur sie für sich selbst und ihre Generation sieht.
Von Cedric Dorin
Warum wollten Sie unbedingt diese Gespräche mit Überlebenden führen?
Wir sind die allerletzte Generation, die dazu überhaupt noch eine Chance hat! Schlagartig bewusst geworden ist mir das auch erst am Ende meines Master-Studiums. Das war zu einer Zeit, in der in Deutschland rechte Parteien wie die AfD nicht nur stärker geworden, sondern auch in Parlamente eingezogen sind. Diese Relativierungen des Nationalsozialismus und des Holocausts, das hat mir große Sorgen bereitet. Und obwohl der Holocaust ja elementarer Bestandteil jedes Unterrichts in beinahe jedem Schuljahr ist, scheint diese Zeit dennoch für sehr viele sehr weit weg. Man glaubt, es habe so wenig mit einem selbst, mit dem Heute zu tun. Aber so ist eben nicht!
War es schwer, Überlebende davon zu überzeugen, dass Sie mit Ihnen reden?
Das Schwierigste war, überhaupt noch Gesprächspartner zu finden. Ich habe viele Organisationen und Gedenkstätten angerufen, bekam dann meist nur zu hören: Da sind Sie aber sehr spät dran! Es gebe kaum noch Zeitzeugen, die in der gesundheitlichen Verfassung seien zu sprechen. Ich habe mich in Berlin dann erst einmal ein bisschen treiben lassen, bin zur Synagoge in der Oranienburger Straße gegangen, zum Denkmal der ermordeten Juden in Europa und der zugehörigen Ausstellung, habe mir die Stolpersteine auf den Straßen näher angesehen. Dann bin ich ins Rathaus Schöneberg gekommen, wo es eine Dauerausstellung gibt. Dort fand zufällig eine Lesung von Rahel Mann statt, die nun auch in meinem Buch ist. Aber erst durch Kontakte in Israel, und besonders durch die Hilfe von Yael Goldman vom Goethe-Institut, hatte ich plötzlich über zehn Gesprächs-Termine allein in Israel.
Einer davon war mit Oda Kissinger.
Oda hat mich vom ersten Moment an beeindruckt: Wie fit sie war, wie humorvoll und wie schlagfertig. Für meinen Besuch hatte sie extra den Kaffeetisch gedeckt. Als sie sah, dass mein Kleid bekleckert war, sprang sie sofort auf, holte einen Lappen und fand noch den kleinsten Fleck. Und dann sagt sie zu mir: „Jetzt unterhältst du dich mit so Altertümern wie mir! Soviel kann man doch gar nicht schreiben.”
Sie war überrascht, dass Sie mit ihr sprechen wollen?
Sie meinte, es gebe doch schon ein Buch, in dem ihre Geschichte steht. Sie musste sich also auch erst wieder darauf einlassen zu erzählen. Am Ende sagt sie aber dann, dass sie nun verstehe, warum ich selbst noch einmal bei ihr war und was ich damit vorhabe. Das sei genau so, wenn ihre Freundinnen zu ihr sagen: Warum gehst du denn noch in die Oper, wenn du es dir auch im Fernsehen anschauen kannst? Und ergänzte dann: Nichts ersetzt das Orchester, das live vor einem spielt! Diese Unmittelbarkeit, das eigene Erleben gilt eben auch für Gespräche mit Zeitzeugen.
Benannt haben Sie Ihr Buch schließlich nach einem Gedicht des Überlebenden Zwi Steinitz.
Zwi Steinitz hat im Holocaust seine ganze Familie verloren. An seinem Geburtstag wurden die Eltern und sein Bruder abgeholt und später ermordet. Wir saßen in seinem Arbeitszimmer, als er mir erzählte, wie sehr er seine Mutter und seinen Vater geliebt und was er selbst im KZ erlebt hat: Ein Junge sollte aufgehängt werden. Weil er ein Lied gepfiffen hat. Zwei Mal riss der Strick, er hat es trotzdem nicht überlebt. „Mit diesen Erinnerungen muss man leben”, sagte er, und fing an zu weinen. Dann las er mir sein Gedicht „Wo einmal Flieder blühte” vor. Dieser Moment in seinem Zimmer wird bleiben, da hat sich etwas in mir verankert. Wenn ich durch Berlin laufe und den Flieder blühen sehe, muss ich immer an ihn denken: Wie er vor mir sitzt, erzählt, sich die Augen mit Tränen füllen, wie er seinen Ärmel hochkrempelt und mir die tätowierte Nummer zeigt. Da denke ich an alle, mit denen ich gesprochen habe. Das ist eine ganz tiefe Verbindung. Man kann mangelnde wissenschaftliche Distanz kritisieren, aber für mich ist das wichtigste Ergebnis meiner Arbeit: Ich bin als Forscherin in diesen Prozess hineingegangen und zu einer Zeugin dieser Menschen geworden. Es hat mich selbst als Mensch verändert.
Weil die Geschichten jetzt auch in Ihnen gespeichert sind?
Ja. Der Kern von Erinnerungskultur sind immer Emotionen. Für die Geschichten dieser Menschen habe ich jetzt eine Verantwortung. Und dieses Gefühl ist bis heute geblieben. Erinnerungskultur braucht Menschen, die sich immer wieder einbringen. Der Staat kann Straßen der Erinnerung widmen und Denkmäler bauen – bei politischen Umbrüchen aber können die weg sein. Erinnerungen, die in Menschen weiterleben, sind jedoch nicht so leicht zerstörbar. Ich kann jeden nur ermuntern: Nutzt die Chance, zuzuhören, solange das noch möglich ist. Sprecht auch mit euren eigenen Großeltern.
Mit den eigenen Großeltern?
Ja. Ich habe das versäumt, jetzt leben sie nicht mehr. Doch es ist wichtig, ein Gefühl für diese Zeit damals zu bekommen. Nur so kann man verstehen, wie schnell die Gesellschaft kippte. Und wie unverzichtbar es ist, heute rechtzeitig den Mut zu haben, aufzustehen und sich klar gegen Ausgrenzung, Feindlichkeit und Rassismus zu stellen, selbst im kleinen privaten Rahmen. Auch dann, wenn einem das unangenehm erscheint, wenn man die vermeintlich gute Stimmung nicht zerstören will. Ansonsten entstehen mit der Zeit schweigende Mehrheiten, und mehr und mehr finden, dass Antisemitismus oder Islam-Feindlichkeit oder Homophobie in irgendeiner Form als Haltung oder Meinungsäußerung zu akzeptieren sei.
Wie kann die Erinnerung an die Überlebenden des Holocaust wach gehalten werden, wenn immer weniger Überlebende in Zukunft noch selbst erzählen können?
Grundsätzlich ist und bleibt es wichtig, dass es in der öffentlichen Erinnerungskultur Schweigeminuten, Denkmäler und Ausstellungen gibt. Aber ohne einen persönlichen Bezug lässt man diese ja auch schmerzhaften Erinnerungen der Überlebenden für sich schwer zu, oder kann es erst gar nicht. Und um diesen individuellen, persönlichen Bezug muss sich jeder mehr denn je bemühen. Kreativität, gerade in der Bildung, ist gefragt. Sei es in der Schule durch Projektarbeiten, die durch Nachforschungen über einzelne Personen eine Tiefe und Individualität bekommen. Auch durch eine Patenschaft für einen Stolperstein ist das möglich. Wenn der Wille da ist, auch schmerzhafte Erinnerung zuzulassen, entstehen eben auch Lieder wie „Stolpersteine” von Trettmann oder Max Herres „Berlin-Tel Aviv”, die junge Menschen erreichen und animieren können, mehr wissen zu wollen.
Inwiefern müssen sich Ausstellungen ändern?
Zu Ausstellungen kommen ja meist jene, die schon das Interesse haben. In Zukunft muss es deshalb noch vielmehr darum gehen, zu den Menschen aktiv hinzugehen, um sie zu erreichen und in ihnen den Willen zu wecken, selbst mehr über den Holocaust und über einzelne Schicksale heraus zu finden. Mein Projekt hat mir noch einmal gezeigt: Wir müssen uns alle dringender denn je darum kümmern, Erinnern tatsächlich lebendig zu halten.
Helen Agnes Stoffel, geb. 1989, studierte Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim und spezialisierte sich mit einem Master für Politische Kommunikation an der Freien Universität Berlin. Sie lebt und arbeitet in Berlin.